Zwangssterilisation
Während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland wurden viele Menschen mit Behinderung Opfer von Zwangssterilisationen. Die Idee war damals, durch gezieltes Unfruchtbarmachen die Erbkrankheiten einzudämmen und somit auch den finanzielle Aufwand der Gemeinschaft für die lebenslange Unterstützung erbkranker Menschen zu verringern. Gehörlosigkeit wurde unter den sog. Erbkrankheiten auch aufgeführt.
Hinweise darauf, ob eine erblich bedingte Taubheit vorlag, konnten den sorgfältig geführten Schülerlisten der Taubstummenschulen entnommen werden. Die Schulen waren gezwungen, eng mit dem Erbgesundheitsamt zusammen zu arbeiten und die gewünschten Schüler-Informationen zur Verfügung zu stellen. Ebenso meldeten auch Ärzte ihre Patienten, wenn ihnen bekannt war, dass bei ihnen eine erblich bedingte Taubheit vorlag.
Widerstand war zwecklos und einige taube Menschen fügten sich ohne Einwände dem Gesetz – oft deshalb, weil die Sterilisation auch von der Evangelischen Kirche befürwortet und den Betroffenen als Beitrag zur Weiterentwicklung Deutschlands vorgetäuscht wurde. Wer sterilisiert wurde, war verpflichtet, darüber Stillschweigen zu bewahren. (Helmut Vogel auf TAUBWISSEN)
SCHULDERKLÄRUNG DER EVANGELISCHEN GEHÖRLOSENSEELSORGE
Zum Verhalten von Taubstummenseelsorgern
in der Zeit des Nationalsozialismus
zur Frage der Zwangssterilisation
Verabschiedet auf der Mitgliederversammlung der Deutschen
Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Gehörlosenseelsorge (DAFEG)
am 13. Oktober 2016 in Beuggen.
In der Zeit des Nationalsozialismus wurde am 14.7.1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen. In der Folge wurden auch viele Gehörlose zwangsweise sterilisiert. Das war schlimmes Unrecht und Grund für lebenslanges Leid.
Im Mai 1935 tagte der „Reichsverband der evangelischen Taubstummenseelsorger Deutschlands“ in Eisenach. Der Reichsverband war die Vorgängerorganisation der DAFEG. Ein Thema auf der Tagung war die Zwangssterilisation von Gemeindegliedern.
Die damaligen Taubstummenseelsorger beschlossen, ein Merkblatt unter dem Titel „Wort an die erbkranken evangelischen Taubstummen“ zu erstellen. In dem Merkblatt wurden die gehörlosen Gemeindeglieder aufgefordert, dem staatlichen Gesetz zu gehorchen und sich sterilisieren zu lassen. Diese Aufforderung wurde theologisch begründet.
Das Merkblatt wurde im Frühjahr 1936 gedruckt und an die Gehörlosen verteilt. Das ist 80 Jahre her – solange wie ein langes Menschenleben. Viele gehörlose Opfer der Zwangssterilisation sind inzwischen verstorben. Mit dem Verhalten der damaligen Taubstummenseelsorger und dem Merkblatt ist für die betroffenen Menschen bis heute großes Unrecht und Schmerz verbunden.
Wir erkennen die Schuld der damaligen Taubstummenseelsorger. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ war ein Verbrechen. Die im Reichsverband zusammengeschlossenen Pfarrer haben mit dem Merkblatt das nationalsozialistische System unterstützt. Sie haben damit Schuld auf sich geladen.
- Die Schuld war: mit der Bibel zu argumentieren, damit das Unrecht wie Recht aussieht.
- Die Schuld war: nicht zu verhindern, dass Gehörlose zu Opfern wurden.
- Die Schuld war: das Vertrauen der Gehörlosen zu ihren Pfarrern zu missbrauchen.
- Die Schuld war: gehörlose Betroffene zum Schweigen zu verpflichten. Dadurch wurde ihr Leid vergrößert.
- Die Schuld war: auch nach 1945 haben die beteiligten Pfarrer ihre Schuld nicht zugegeben.
Heute erkennen wir das Unrecht und sind erschrocken, weil damals Gehörlosenseelsorger ohne Not die nationalsozialistische Ideologie für sich und ihre Arbeit übernommen haben.
Bis heute haben wir das als DAFEG nie öffentlich gesagt.
Wir schämen uns dafür.
Wir gedenken der verstorbenen Betroffenen und der noch lebenden betroffenen Gehörlosen.
Ihr Leid wurde vergrößert, weil sie auf ein offenes Wort von uns so lange vergeblich gewartet haben.
Die DAFEG als Nachfolgeverband des „Reichsverbandes der Taubstummenseelsorger“ stellt sich ihrer Verantwortung.
Wir bekennen vor Gott: Wir haben als DAFEG viel zu lange geschwiegen. Durch unser Verhalten und Schweigen wurde Vertrauen zerstört und sind gehörlose Menschen enttäuscht und geschädigt worden.
Wir bitten die noch lebenden gehörlosen Opfer der Zwangssterilisation um Vergebung.
Wir bitten die Angehörigen der Opfer um Vergebung.
Wir bitten Gott um Vergebung.
In Zukunft werden wir – in Zusammenarbeit mit Gehörlosenverbänden – wachsam sein.
Wir werden nicht schweigen,
- wenn die Menschenrechte von gehörlosen Menschen in Frage gestellt werden,
- wenn Menschen wegen ihrer Gehörlosigkeit ausgegrenzt werden,
- wenn das Recht auf Gebärdensprache in Frage gestellt wird,
- wenn das Lebensrecht ungeborener Menschen wegen ihrer Behinderung in Frage gestellt wird.
Wir hoffen, dass Gott uns Kraft und Mut gibt, uns dieser Verantwortung zu stellen.
Der Vorstand und die Mitgliederversammlung der DAFEG